Dienstag, 9. Februar 2016

Schlittenfahrt im Norden



Schaut man auf den Rücken der eigenen linken Hand, die Finger zusammen, den Daumen nur leicht abgespreizt, so hat man ungefähr den Umriss des Staates Michigan vor Augen. Ich vernachlässige der Einfachheit halber die Obere Halbinsel (Upper Peninsula). Fällt man nun ein Lot aus der Mulde zwischen Zeigefinger und Daumen senkrecht nach unten bis ans Ende des Daumenknochens, so hat man Detroit lokalisiert. Auf der Strecke zwischen Daumenmulde und Detroit liegt übrigens die Stadt Flint, die seit geraumer Zeit ihren Einwohnern bleiverseuchtes Trinkwasser anbietet und nach der jüngst breitflächigen Verteilung von Trinkwasserfiltern hat man festgestellt, dass die Filter leider nicht das leisten, was versprochen wurde. Mittlerweile ein Thema von nationalem Interesse – aber das soll hier nicht weiter behandelt werden.
Zurück zur Hand: Die Stadt Traverse City liegt etwa an der Spitze des kleinen Fingers am Lake Michigan. Von Detroit bis Traverse City braucht es etwa viereinhalb Stunden Autofahrt. Je weiter man sich von Detroit nach Nordwesten entfernt, desto geringer wird die Bevölkerungsdichte. Während die Temperaturen in Detroit und Traverse City im Winter noch verhältnismäßig ähnlich sind, so findet in der Region um  Traverse City, bzw. in der Region oberhalb der vier Fingermittelgelenke deutlich mehr Schneefall statt als im Süden Michigans.  Im nördlichen Teil von Michigan ist der Tourismus ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Im Winter fehlen zum Skifahren fehlen allerdings die Berge. Was bleibt da übrig für den Tourismus im Winter, neben dem Eisfischen? Schlittenfahren!
Sled ist die englische Übersetzung für das Wort Schlitten. In meinem deutschen Sprachgebrauch assoziiert das Wort Schlitten im Winter eine Holzkonstruktion mit der man sich auf schneebedeckter Erde in geneigtem Gelände bergabwärts bewegt. Die beiden Kufen sind mit Eisen beschlagen und werden zur Gleitoptimierung unmittelbar vor Fahrtbeginn gerne mit Speckschwarte finalisiert…  Hier in den USA wird das Wort Sled als Synonym für Motorschlitten oder Schneemobil verwandt. Motorschlittenfahren ist im nördlichen Michigan im Winter die dominante Freizeitsportart. Von langer Hand geplant, wollte ich diese Erfahrung natürlich nicht missen.
Ein Wochenende wurde ausgewählt und mit zwei Kollegen die Tour nach Norden in Angriff genommen. Für einen Tag haben wir Schneemobile des Hersteller Artic cat gemietet : Zweitaktmotor, Zweizylinder,  565 ccm Hubraum, 55 PS Leistung bei 255kg Gewicht. Wir befinden uns hier in der Einsteiger-Klasse. Schneemobile können mitunter auch mal über 200 PS Leistung besitzen. Die Motorleistung wird über Keilriemenautomatik und Fliehkraftkupplung auf eine Gleiskette aus Gummi übertragen. Die Traktion ist sehr unmittelbar. Gas gegeben wird über einen Daumengashebel. Nimmt man Gas weg bremst man, d.h. die Gleiskette dreht langsamer. Betätigt man zusätzlich den Bremshebel mit der linken Hand, kommt es bis zum Blockieren der Kette und je nach Untergrundbeschaffenheit des Schnees bleibt man abrupt stehen oder rutscht mehr oder weniger (un-)kontrolliert noch einige Meter. Anbei ein Photo des Fortbewegungsmittels:



Mit Schneemobilen muss man gelegentlich schneebedeckte Pfade verlassen, um zum Beispiel asphaltierte Straßen zu überqueren. Ich wusste bis dato nicht, dass das schadlos möglich ist. Man soll allerdings nur sehr langsam – maximal Schritttempo fahren. Auf dem Weg nach Norden haben wir durch die Windschutzscheibe immer mal wieder in großer Entfernung eine Gruppe von Schneemobilen eng hintereinander, auf den entfernten Verkehr bedacht, langsam die Straße überqueren gesehen, sowie wie eine kleine Igelfamilie. Da Schneemobile ausschließlich über die Kufen gelenkt werden, ist es auf asphaltiertem Untergrund nicht möglich zu lenken, bzw. der Lenkeinschlag hat keine Auswirkung. Jeder Anfänger  wird diese Erfahrung spätestens beim Anfahren der ersten Tankstelle bzw. Zapfsäule machen. Man wundert sich als erstes noch, warum andere Schneemobilfahrer große Bogen über verschneite Wiesen und Felder rund um die Tankstelle machen, um das Fahrzeug auf eine Zapfsäule aus größerer Entfernung ausgerichtet zu haben und darauf lauern, dass diese eine angepeilte Zapfsäule frei wird. Wird eine andere Zapfsäule zuerst frei, wird dies dann gelassen ignoriert.
Wesentliche Konvention zur Vermeidung von Kollisionen ist, dass bei Identifikation von entgegenkommenden Fahrern die Geschwindigkeit reduziert wird und durch Aufzeigen der linken Hand mit den Fingern signalisiert wird, wie viele Fahrzeuge in der eigenen Gruppe sich noch hinter einem selbst befinden. Der letzte Fahrer der Gruppe hebt kurz die Faust. Überholen sollte man nur in Ausnahmefällen, da  die Wege häufig nur eine sehr begrenzte Breite aufweisen. Das Fehlen von Hupe und Spiegeln an unseren - und wie ich beobachtet habe auch an anderen - Schneemobilen hat mich sehr gestört. Vor allem Spiegel halte ich für unverzichtbar, um nicht immer wieder den Kopf drehen zu müssen um zu schauen, ob der Kollege noch hoffentlich hinter einem ist.
Ich nehme an, dass unsere Schneemobile gedrosselt waren, auf der digitalen Anzeige konnte ich einmal - leicht bergab - 62 mph ablesen, also knapp 100 km/h. Aber die Höchstgeschwindigkeit ist nicht das, was den Reiz ausmacht, vor allem weil man im Schnee bei dieser Geschwindigkeit – trotz dem unverzichtbaren Utensil, der Sonnenbrille, Unebenheiten, Mulden und kleine Hügel nicht immer erkennt – besonders wenn die Sonne scheint. Bei dieser Geschwindigkeit auf dem unebenen Untergrund traversiert das Fahrzeug auch gerne mal selbständig einen Meter nach rechts oder nach links und man weiß nicht so recht, ob und wie man jetzt das Gewicht verlagern soll. Extrem reizvoll ist dagegen das Fahren durch Wälder, Kurven, Steigungen und Abhänge. Ich kann mich noch gut an meilenlange Waldwege erinnern, bei denen die Kronen der Bäume rechts und links vom Wegesrand über dem Waldweg ein geschlossenes Dach gebildet haben und man fast wie durch einen Tunnel gesaust ist.  Vor allem aber Kurven haben ihren Reiz. Relativ schnell versteht man, bei welcher Geschwindigkeit in Kurven man den Lenker einschlagen kann und durch das komplette Gewichtsverlagern auf den Fuß bzw. das Trittbrett im Kurveninneren man den Schlitten am Umkippen hindert, um dann durch unmittelbares Drücken des Gashebels an den Griff sich aus der Kurve raustragen lässt. Drift! Bei diesen Manövern  entsteht dann dieses schwer beschreibliche Gefühl, wenn eine gewisse Geschicklichkeit oder auch begrenzte Körperbeherrschung mit einer externen Kraftquelle der Mobilität zur Symbiose verschmelzen. Man spürt sich als Mensch. Wenn das stattfindet, können dem Akteur unter anderem Melodien als Soundtrack zur visuellen Wahrnehmung der Szenerie in den Kopf kommen oder er lächelt einfach unterm Helm.
Wer ist nun der typische Schneemobilfahrer? Eine Annäherung auf diese Frage ließ sich zur Mittagszeit geben, als wir eins der wenigen Restaurants an den Landstraßen zwischen den entfernten kleinen Örtchen aufgesucht haben.  Schon von Weitem sieht man links und rechts an der Straße 70 bis 80 Schneemobile parken. Innen im einfach gehaltenen Restaurant können die Helme an einer speziell dafür vorgesehen Vorrichtung an der Wand aufgehängt werden. Alle Tische waren besetzt. Nachdem wir bestellt hatten, haben sich bei mir schnell ein Eindruck und eine Interpretation manifestiert: Blickt in den Raum, konnte man feststellen, dass von den etwa 80 Kunden ziemlich genau ein Deutscher und an den Nebentischen zwei Kinder, die ich zwischen 8 und 10 Jahren schätze, die einzigen Gäste waren, die kein Bier aus der Flasche vor sich stehen hatten. Würde man in diesem Raum die Frage stellen, wer nicht im Besitz mindestens einer Schusswaffe ist, würden definitiv nur noch die beiden Deutschen die Hand haben. Stelle ich mir vor, diese Szene wäre nicht in Nord-Michigan, sondern in Deutschland, würde ich als erstes, auch unabhängig der Helme, mich vom Milieu an eine rustikale Motorradfahrerkneipe erinnert fühlen.
An diesem Tag sind wir abzüglich der Pause etwa 8 Stunden gefahren, ohne Ziel und Plan, kreuz und quer durch die Wälder und haben, knapp 120 Meilen, etwas über 200km, Wegstrecke hinter uns gelassen. Und es gibt so viele von Hunderten von Meilen, die man im Norden von Michigan noch befahren kann - faszinierend. Jeder von uns hat 13 Gallonen Benzin, also etwa 50 Liter an diesem Tag verbrannt. Das war viel. Mehr Hubraum und Leistung sollte das nächste Mal sicherlich zu geringerer Drehzahl und einem sparsameren Verbrauch führen.
Die Erfahrung in der Bedienung dieser für mich neuen Kraftfahrzeugklasse war sehr beeindruckend. Dass ich die folgenden drei Tage bei jedem Aufstehen vom Stuhl von meinem Körper daran erinnert wurde, wo es überall, zwischen den Unterschenkeln und dem oberen Rücken, Muskelfasern gibt, lässt keinen Zweifel übrig, dass es sich nicht nur um ein Fortbewegungsmittel, sondern auch ein Sportgerät handelt. Wie ich im Anschluss gelernt habe, werden Motorschlitten von einigen  Experten nicht nur im Winter, sondern auch im Sommer, zur Fahrt über Wasser, verwendet. Um nicht unterzugehen, sollte man allerdings vermeiden, weniger als 60km/h Geschwindigkeit zu fahren und darauf achten, dass die Gleiskette niemals vollständig unter Wasser ist. „Snowmobile Skipping“  ist hier der entsprechende Fachterminus.  
Anbei noch ein kleiner Eindruck aus Perspektive der Helmkamera eines Kollegen.



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