Mittwoch, 2. Dezember 2015

Warum denn gerade Detroit?



Schon vor meiner Abreise in die USA wurde mir in Deutschland nicht selten ein mitleidiger Blick entgegengebracht, wenn ich erzählt habe, dass mein zukünftiger Auslandsaufenthalt in Detroit stattfinden wird. Gleichwohl genaugenommen unser Firmensitz in Southfield ist, also in der Region, die Metro Detroit genannt wird – etwa 25 Minuten Autofahrt sind es von Southfield nach Detroit Downtown.
Auch in den ersten Tagen nach meiner Ankunft in Detroit als ich mich in der Firma nach Empfehlungen erkundigt habe, in welchen Regionen man ein kleines möbliertes Apartment mieten sollte, hat keiner die Empfehlung ausgesprochen, mich in Detroit Downtown umzuschauen, sondern ausschließlich in der entgegengesetzten Himmelsrichtung.
Maßgabe für diese Beurteilung von Detroit ist die Wahrnehmung, oder auch nur assoziierte Wahrnehmung, dass die Stadt heruntergekommen ist, Armut und Kriminalität vorherrschen, die Infrastruktur am Boden liegt und man am besten gleich der Stadt fernbleibt. So können dann natürlich auch die gebildeten Vorurteile nicht in Frage gestellt werden.
Meine Entscheidung in Detroit Downtown ein Apartment zu finden, festigte sich nach dem ersten Wochenende, das ich hier im Hotel in Downtown verbracht habe. Damals war es vorwiegend ein Gefühl, dass dies die richtige Region für mich zum Wohnen ist.  Das Gefühl ist bis heute nicht gewichen, es hat sich gefestigt und im Laufe der Wochen bin ich mehr und mehr in der Lage das ursprüngliche Gefühle anhand von  Beobachtungen zu beschreiben. Es wird also Zeit für Detroit (Downtown) mal eine Lanze zu brechen.
Mit meinen Ausführungen möchte ich mich auf den Downtown und südlichen Midtown-Bezirk beschränken. Diese Region beschreibt etwa eine Flächenausdehnung, die man in knapp 1 ½ Stunden zu Fuß durchqueren kann. Alles was dahinter liegt entzieht sich noch überwiegend meiner derzeitigen Kenntnis.
Nach frühen Aufzeichnungen wurde Detroit im Jahr 1701 gegründet. Im Jahr 1765 war Detroit mit 800 Einwohnern die größte Stadt auf der Achse zwischen Montreal und New Orleans. Seit dem stieg die Bevölkerung kontinuierlich an und hatte in den 1950er Jahren den Höhepunkt erreicht mit über 1,8 Mio. Einwohnern. Seitdem hat sich die Bevölkerung kontinuierlich reduziert auf gegenwärtig noch knapp 680.000. Natürlich gibt es viele leerstehende Häuser und Hochhäuser. Ich stelle aber gleichzeitig den Trend fest, dass momentan ältere leerstehende Hochhäuser renoviert werden und als Apartments angeboten werden. Auch das Hochhaus, in dem ich lebe, hat in den 1980 und 1990er Jahren Leerstand durchleiden müssen, bis es als Apartmenthaus umgebaut wurde und mir heute Unterschlupf bietet. In unserem Apartmenthaus mit knapp 200 Wohneinheiten gehöre ich definitiv zu den älteren Bewohnern. Aus eigener Betroffenheit kann ich hier die Mietpreise einschätzen und muss sagen, dass es nicht ganz günstig ist hier zu wohnen. Die vielen jüngeren Mitbewohner, oder die zumindest jünger aussehen als ich, sind morgens und abends so gekleidet, dass man den Eindruck hat, dass es Hochschulabsolventen sind, die Angestelltentätigkeiten in Büros nachgehen. Tierhaltung ist in unserem Haus wohl erlaubt, mindestens jeder zweite, den ich im Aufzug oder Hausflur antreffe führt einen oder mehrere Hunde, überwiegend kleine, mit sich herum. Das scheint hier modern zu sein. Man merkt an vielen Stellen, dass die Stadt sich auf junge Menschen und deren Bedürfnisse eingestellt hat. Hier im Haus wird für eine Bio-Kooperative geworben, bei der man online Lebensmittel bestellen kann, die einmal pro Woche geliefert werden. Wenn man zur Zeit der Lieferung das Haus betritt, stehen im Hausflur neben den Briefkastenschlitzen  geschätzte 30 bis 40 Biokisten für die Bewohner abholbereit befüllt mit Obst, Gemüse und weiteren Lebensmitteln.  
Seit meiner Ankunft haben neben dem Detroit Marathon fast jedes zweite Wochenende irgendwelche Läufe zu Wohltätigkeitszwecken stattgefunden. Ich habe immer nur zufällig davon erfahren und bin jedes Mal erstaunt über die hohe Teilnehmeranzahl. Was ich auch sehr begrüßenswert empfinde ist, dass  Urban-Gardening-Parzellen entstehen und teilweise von Anwohnern, teilweise von der Stadt gepflegt werden. Hier ein Blick aus meinem Hotelzimmer am ersten Wochenende auf die Hochbeete mit Kräutern und Gemüse - mitten in Downtown.



Es gibt hier eine Vielfalt an Restaurants in der Mittelklasse sowie eine Menge Ankündigungen von Restaurants, die in naher Zukunft eröffnet werden. Natürlich finden sich in Downtown auch Geschäfte für Bekleidung und ähnliches, allerdings nicht in der Dichte anderer Städte und nicht von den großen internationalen Modelabels, wie sie in New York, Chicago oder anderen Großstädten der Welt mit identischer Auslage anzutreffen sind. Das ist für mich kein Nachteil, da sich im Umkreis von 35 Minuten Autofahrt drei große Shopping Malls erreichen lassen.
Kulturell, vor allem musikalisch, hat Detroit einiges zu bieten. Das ansässige Motown-Plattenlabel (der Name ist aus den beiden Worten Motor und Town zusammengesetzt) ist seit dem Ende der 1950er Jahre Begriff für eine eigene Musikrichtung, in der Soul-, Funk- und R&B-Elemente in spezifischer Ausprägung auftreten.  Aber nicht nur die von überwiegend afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen vertretene Musik hat Detroit hervorgebracht, sondern auch die frühen Vorläufer des Punk haben in Detroit das erste Licht der Öffentlichkeit entdeckt. MC5 (Motor City Five) und Iggy Pop sind hier als Protagonisten zu nennen. In den 1990er Jahren hat Detroit in der aufkommenden Techno-Bewegung ebenfalls einen eigenen Stil hervorgebracht, der die Metaphorik industrieller Produktion in elektronische Musik übersetzt und sich damit klar von der fast zeitgleich entstandenen Chicago-House-Musik unterscheidet. Das Angebot an Konzerten ist auch heute noch reichhaltig, leider habe ich kurz nach meiner Ankunft ein Konzert von Paul McCartney verpasst, The Who werden ihren Tournee-Auftakt wohl am Tag meiner finalen Abreise nach Deutschland in Detroit stattfinden lassen.
Was mich aber am meisten begeistert ist die Architektur der Stadt, vor allem der Häuser, die zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut wurden. Eine Ausnahme bildet das Renaissance Center, dem höchsten Gebäude Detroits, das in den 1990er Jahren fertiggestellt wurde, mit vollständiger Glasfassade, sowie es viele Gebäude in Chicago haben,  und meines Erachtens überhaupt nicht ins restliche Stadtbild passt. Während Chicago durch spiegelnde Hochhausfassaden, Aufgeräumtheit und Sauberkeit in Erinnerung geblieben ist, ist Detroit eine Antiquität, die teilweise noch renovierungsbedürftig ist, etwas moderig riecht aber viel Geschichte zu erzählen hat. Das viele Gebäude leer stehen, einzelne schon von einem Bauzaun umzingelt sind, stört mich dabei nicht. Ich hoffe, dass die alten leerstehenden Gebäude nicht abgerissen werden, sondern sich erbarmende Investoren finden, die diese wieder herrichten. Für mich fühlt es teilweise so an, als ob man in der Zeit zurückversetzt wurde um knapp 100 Jahre. Diese Gebäude wirken auf mich mit einem eigentümlichen aber doch eigenen Stil.  Die damaligen Architekten haben häufig zu Ausbildungszwecken Zeit in Europa verbracht und nach ihrer Rückkehr verschiedene Stilelemente zu einem eigenen Eklektizismus kombiniert, wie z.B. Albert Kahn, der 1914 das Haus entworfen hat, in dem ich gerade sitze und schreibe. Wurden diese Hochhäuser ursprünglich weitestgehend als Büroräume  genutzt, finden sich immer wiederkehrende Stilmittel. Ich erkenne einen Mix aus industriellen Architekturelementen, geprägt durch eine hohe Anzahl wiederkehrender, Strukturen zum Beispiel bei den Fensterfronten, die teilweise an den Kubismus erinnern. In Erdgeschossen und auf dem Dach finden sich Elemente römischer Baukunst, wie z.B. Säulen, Torbogen und auch Geometrien von Kirchen und Kathedralen. Aufzüge und Wanduhren tragen mitunter Art Deko Tradition. Wenn man an der Straße oder auch in der Lobby von Gebäude kurz verweilt, gibt es viel zu entdecken.  
Hier ein spontaner Blick auf ein paar Häuserfassaden in Downtown.
Ich weiss leider nicht mehr wie das Gebäude im Finanzdistrikt heisst, allerdings erkennt man hier schön, wie Quer- und Mittelschiff ein Kreuz bilden, wie bei Kirchen romanischer Bautradition. Auch die Fenster der ersten Etage und der Torbogen passen zu dieser Stilistik.Wer würde heute noch ein Finanzgebäude so gestalten?
Die Vorhalle zur Lobby des Guardian-Buildings lässt einen schon mal durch die gespitzten Lippen pfeiffen.

Steigt man die Treppe hoch, ist man nicht weniger beeindruckt, man betritt die Lobby, in der sich Geschäfte des Einzelhandels sowie eine Bankfiliale und ein Cafe in der Mitte befinden. Angeblich wurde das Guardian Building inklusive der 36 Stockwerke in 18 Monaten komplett errichtet. Das muss damals eine tolle prosperierende Stimmung in der Stadt gewesen sein.


Wenn die Stadt weiteraufblüht, so wie ich es hoffe, wird es spannend in einigen Jahrzehnten zurück zu kehren und zu schauen, wie erfolgreich die Wiederbelebung von statten gegangen ist.
Um abschließend auf die Vorurteile zurück zu kommen: Ja, es gibt in Downtown natürlich auch viele Obdachlose, die betteln, wofür ich auch Verständnis habe, allerdings wird es auch akzeptiert, wenn man keine Almosen gibt. Kriminalität habe ich noch keine wahrgenommen. Nachholbedarf hat die Stadt für mich in öffentlicher Verkehrsinfrastruktur. Für mich als Deutschen ist es kaum nachvollziehbar, warum ich mit Bussen nur äußerst müßig, mit deutlich über zwei Stunden Fahrzeit inklusive Umsteigen und Fußweg in Kauf nehmen muss, wenn ich von Downtown zum Flughafen fahren möchte. Mit dem Auto dauert es keine 20 Minuten. Aber das ist natürlich der Bedeutung des Kraftfahrzeuges für den Menschen geschuldet - in einer Stadt, die auch heute noch den häufig verwendeten Beinamen Motorcity trägt.

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