Mittwoch, 6. Januar 2016

Über das Verhältnis zum Automobil



Wenn man sich längere Zeit in der „Motorcity“ aufhält, kommt man meines Erachtens nicht umhin, auch einmal die eigene Wahrnehmung über das Verhältnis zum Automobil hier vor Ort zu dokumentieren.
Wie schon an früherer Stelle erwähnt, ist der öffentliche Nahverkehr in Detroit äußerst spärlich ausgebaut. Wenn ein Auto wie die Luft zum Leben gehört, dann hier in der Region, die auch nach schweren Zeiten der Automobilindustrie der letzten Jahrzehnte auch heute noch Geburtsort vieler Fahrzeuge ist.
Wirft man einen Blick auf die Modell- und Markenvielfalt, fällt auf, dass hier vor allem US-amerikanische Fabrikate dominant die Straße bevölkern. Ich würde tippen, dass mit großem Abstand an zweiter Stelle japanische Fabrikate vor den deutschen Produzenten zu finden sind. Was ich hier bisher noch gar nicht gesehen habe sind Autos französischer Herkunft. Das ist im globalen Wettbewerb sicherlich auch eins der großen Probleme des PSA-Peugeot-Citroen-Konzerns und von Renault. Von den deutschen Fabrikaten sind entweder Oberklasse Limousinen zu finden oder die gehobene Mittelklasse mit hubraumstarken Antrieb, z.B. BMW 330i. Wenn man mal selten einen Golf entdeckt, dann aber auf jeden Fall ein GTI.
Ich habe den Eindruck, dass grundsätzlich die Fahrzeuglänge den assoziierten Status des Fahrzeugführers definiert. Z.B. ein Cadillac Escalade, ein SUV in Kombi-Bauweise, der hier gar nicht so selten anzutreffen ist. Die Fahrzeuglänge ist mit 5,69m  gut 70cm länger als die des VW T6 Busses, was sich beim rückwärtigen Einparken mit Sicherheit noch einmal bemerkbar macht. Großen Reiz üben hier auch Pick-up Trucks auf Führerscheininhaber aus - natürlich auch in den urbanen Gegenden. Klassiker ist dabei der populäre Dodge Ram, der sich  in der Langversion bis zu 7,47m streckt. In meinem mittlerweile mehr als drei monatigen Aufenthalt habe ich wahrscheinlich schon deutlich über 1.000 Dodge Ram auf der Straße gesehen, aber keiner hatte je irgendetwas auf seiner Ladefläche transportiert. An dieser Stelle muss ich gestehen, dass der Dodge Ram sowie Pick-up Trucks an sich auch einen gewissen Reiz auf mich ausüben. Sei es der weit verbreitete vor sich hin blubbernde 5,7 Liter Motor oder die Tatsache, dass man aus dem Beifahrerfenster weit nach unten schauen muss, um zu sehen, wer an der Ampel z.B. im Jeep Grand Cherokee neben einem am Steuer sitzt. Letztliches wurde meine frühe Sozialisation auch geprägt durch den Schauspieler Lee Majors alias Colt Seavers mit seinem gold-braunen GMC Sierra Grande aus der Serie „Ein Colt für alle Fälle“ zu Beginn der 1980er Jahre, was vermutlich den Keim für den Reiz an Pick-up Trucks gelegt hat. In dieser Serie ist das Fahrzeug, bzw. der robuste Einsatzes des Fahrzeugs, eine wesentliche Bedingung für den Erfolg des Protagonisten im Nebenberuf als Kopfgeldjäger. Und wahrscheinlich ist das auch das zentrale Motiv: zu wissen, dass man ein Fahrzeug fährt, das viele Widrigkeiten und Hindernisse überwinden kann, (z.B. über LKW springen oder sich öffnende Zugbrücken im Sprung überwinden) wenn es wahrscheinlich auch niemals in der Praxis dazu kommen wird. Vergleichbar ist das Muster mit dem Besitz von Schusswaffen in den USA. Zum Glück werden diese nur in den seltenen Fällen, wenn natürlich auch noch viel zu oft, zu ihrer eigentlich Intention verwendet. Trotzdem fühlen sich Waffeninhaber vermeintlich sicherer.
Während in Deutschland bei der Wahl des Automobils Parameter der Motorleistung ausgedrückt in PS, Drehmoment, Beschleunigungswerten, Höchstgeschwindigkeit und natürlich auch Verbrauch ins Kalkül gezogen werden, sind es hier mehr die Anzahl der Halter für Kaffeetassen und vor allem die Felgen. Auf den größten Schrottkarren findet man hochglanzpolierte Alufelgen, die sich entgegen der Reifendrehrichtung beim Beschleunigungsvorgang drehen (wie immer dieser Effekt im Fachjargon auch heißen mag…). 
Auf Fahrzeugpflege wird hier augenscheinlich weniger Wert gelegt als in Deutschland. Vielleicht liegt es daran, dass es hier keine TÜV-Standards wie in Deutschland gibt, der die Fahrzeughalter zu fundamentaler Fahrzeugwartung anregt, um auch in den kommenden zwei, vier oder sechs Jahren die Hauptuntersuchung zu bestehen. Kratzer im Lack oder Macken werden hier auch ohne großes Brimborium häufig reparaturlos zur Kenntnis genommen.  Die Fahrzeugverwendung wird dadurch ja schließlich nicht beeinträchtigt.
Während meiner drei ersten Monte in den USA haben mich die Fahrzeuge auf der Straße mit umfangreichen Schäden am meisten fasziniert. So etwas findet man auf deutschen Straßen nicht. Fahrzeuge im aktiven Straßenverkehr mit umfangreichen Schäden, sei es durch Unfall oder erhebliche Durchrostung, haben für mich eine Geschichte zu erzählen oder regen zumindest dazu an, sich auszumalen, wie es zu diesem Resultat wohl gekommen ist. Sie sind gleichzeitig auch ein Spiegel der Gesellschaft. Kann der Halter das Fahrzeug aus finanziellen Gründen nicht Instand setzen lassen und ist zur Existenzsicherung trotzdem auf die unterbrechungslose Nutzung angewiesen, so muss er ggf. auch ein vergrößertes Risiko im Straßenverkehr auf sich nehmen und gefährdet auch andere Verkehrsteilnehmer: unter welchen Bedingungen lebt der Besitzer? Diese Fahrzeuge im aktiven Straßenverkehr sind für mich auch Symbol dafür, dass der amerikanische Traum scheitern kann. In meinen ersten Monaten ist mir die Idee gekommen, eine Fotoserie über diese glücklosen Fahrzeuge zu erstellen. Die Tatsache, dass ich eine Kamera mit Wechselobjektiven dabei hatte, die leider, wenn spontan erforderlich, dann nicht greifbar war, hat den Projektstart verzögert. Zwischen Weihnachten und Neujahr habe ich mir in Deutschland dann eine neue Kompaktkamera gekauft. Gestern Abend nach der Arbeit auf dem Weg nach Hause, bei leider eingeschränkten Lichtverhältnissen, ist auf dem Freeway nun das erste Foto meiner Serie entstanden. Hier vorab ein Preview:

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