Sonntag, 15. November 2015

Pray for Paris



Seit etwa fünf Wochen war ich im Besitz der Eintrittskarte für ein Konzert der Dead & Company Tournee in Columbus, Ohio. Was für ein Zufall, dass 20 Jahre nach dem Tod von Jerry Garcia sich Bill Kreutzmann, Mickey Hart und Bob Weir entschlossen haben als Dead and Company erneut auf Tournee zu gehen, und ich just zu diesem Zeitpunkt in den USA sein werde, ganz in der Nähe von einem der Spielorte.
Die Stadt Columbus in Ohio ist 203 Meilen von Detroit entfernt. Mein Navi hat dafür 3 ½ Stunden Fahrzeit prognostiziert. Um vorher ganz entspannt im gebuchten Motel einzuchecken und noch eine Kleinigkeit zu Abend zu essen, bin ich Freitag ausnahmsweise gegen 13:00 aus dem Büro raus, ab ins Auto und los. Fahren auf US-Überlandstraßen ist eigentlich recht entspannt. Außerhalb größerer Städte fahre ich fast ausschließlich mit dem Lenkrad, also der Tempomat-Steuerung am Lenkrad. Man muss sich als Deutscher kurz dran gewöhnen, auf allen Spuren überholt zu werden. Auf High- und Freeways – wobei mir bis heute der Unterschied noch nicht ganz klar ist – liegt die Maximalgeschwindigkeit in den Staaten Ohio, Illinois und Michigan bei 70 Meilen pro Stunde, was 112,6 km/h entspricht. In Deutschland kommt mir das gähnend langsam vor, hier ist es wirklich angenehm zu fahren und auch angemessen. Denn der Zustand vieler Straßen würde es gar nicht zulassen 180 km/h oder schneller zu fahren. Ich bin froh, mit einem SUV motorisiert zu sein, der über ausreichend Federwege verfügt. Fast alle Fahrer überschreiten die Höchstgeschwindigkeit um 5 bis 10 Meilen, auch die LKW, viele fahren so wie ich, mit Tempomat. Ärgerlich wird es allerdings wenn Baustellen nahen, so wie auf der I-75 nahe Toledo. Über mehrere Meilen wurde die Straße vermittels Pylonen von drei auf zwei auf eine Spur verjüngt, ohne irgendeine Aktivität von Bauarbeitern und ohne auch nur ersichtliche Vorbereitungen einer Baustelle. Dieser verkehrslogistische Schwachsinn hat mich zusätzlich über eine  Stunde Stopp and Go Fahren gekostet. Die Einfahrt nach Columbus am Freitag spätnachmittag war natürlich auch auf allen Straßen verstopft. Für die 203 Meilen habe ich schlussendlich insgesamt 5 ½ Stunden Fahrzeit gebraucht. 
Dann die Ankunft im Motel. Nach der Internet-Buchung war mir gar nicht bewusst, dass ich ein Motel und nicht im Hotel ein Zimmer reserviert habe. Glück gehabt: denn den Charme der einfachen, klassischen Motels, die man aus Filmen kennt, habe ich bisher noch vermisst. Durch eine Einfahrt gelangt man auf einen Innenhof, der ausschließlich zum Parken dient. Auf zwei Stockwerken ist der Innenhof umgeben von Zimmern, deren Türen direkt ins Freie führen.
Nach der Autofahrt war ich froh, die zwei Meilen zur Nationwide Arena laufen zu können. Denn, wie ich mittlerweile gelernt habe, finden Konzerte in den USA bestuhlt im Sitzen statt – in der Regel. Je näher ich der Arena kam, desto mehr Menschen strömten aus den Parkhäusern im näheren Umkreis Richtung Arena. 19:30 Uhr sollte das Konzert beginnen, ich kam um 19:10 Uhr an der Arena an. Allerdings nicht nur ich, vor den Eingangstüren standen geschätzte 5.000 weitere Gäste in einer Menschentraube mit locker 50 bis 75 Metern Durchmesser. Es hat über eine halbe Stunde Wartezeit gedauert, bis ich durch einen der Metalldetektoren unmittelbar hinter den Türen gehen durfte. Als ich mich dann nochmal umdrehte, war die Menschentraube hinter mir nicht wesentlich kleiner. Diesmal wurde ich nicht aufgefordert Schlüssel, Geldbeutel und Telefon auf eine kleine Anrichte neben dem Metalldetektoren zu legen. Die Security hat lediglich in mitgebrachte Taschen geschaut. Ich nehme an, die Detektoren waren ausgeschaltet oder auch nur Attrappen, 18.500 Menschen so seriös zu untersuchen, würde bei ausverkauften Haus fiel zu lange dauern.
Dann die Überraschung: während ich gegen 07:45 Uhr endlich in der Vorhalle der Arena war und viele Menschen noch Draußen in den Warteschlangen, strömte Musik von der Bühne aus in den Vorraum. Eine Vorband? Nein, Dead and Company haben relativ pünktlich angefangen, der erste Song wurde gespielt. Also schnell orientiert, wo mein Sitzplatz ist und  rein in den Veranstaltungsraum, der trotz striktem Rauchverbot recht vernebelt war. Hier saß auch keiner auf einem Stuhl. In allen Rängen standen bzw. wippten oder tanzten die Menschen vor den hochgeklappten Sitzflächen der Bestuhlung. Nachdem mir mein Block vom freundlichen Aufsichtspersonal durch Handzeichen gewiesen wurde, musste ich nur noch meine Stuhlreihe finden und die tanzenden drei Platznachbarn, links von meinem Sitzplatz, kurz um Einhalt und leichte Rückenlage bitten, um an meinen Sitzplatz zu kommen, der nur als Ablage für die Jacke diente. Nachdem ich dort angekommen war, begrüßte mich mein – ich würde sagen etwa gleichaltriger –  Platznachbar zur Linken mit Handschlag und seiner linken Hand an meinem rechten Oberarm. Rechts von mir waren noch zwei Plätze frei. Etwa 15 Minuten später kam dann auch von rechts ein Pärchen, dass ich etwa 15 bis 20 Jahre älter schätze als ich es bin. Der Mann zur Rechten begrüßte bei seiner Ankunft mich und  auch noch den Platznachbar links von mir mit mehrfach geschütteltem Handschlag. Er war rein äußerlich ein eher unauffälliger Zeitgenosse, der allerdings jeden Song und jede Strophe mitsingen konnte.
Im Vorhinein zur Tournee gab es geteilte Meinungen, ob der junge John Mayer die richtige Besetzung für den Part sei, den früher Jerry Garcia einnahm, womit er viele der Soli zu übernehmen hat. In einem Interview kurz vor der Tournee äußerte John Mayer, dass er sich seit Jahresbeginn auf die ab 31.10. beginnende Tournee spieltechnisch vorbereitet. Dabei koste es ihn große Konzentration so locker und manchmal unscharf zu klingen, wie es die Musik erfordert. Und in der Tat, während der 68-jährige Bob Weir beim Gitarrenspiel locker swingt, ist John Mayer phasenweise deutlich konzentrierter. Schloss man die Augen, war es allerdings extrem stimmig, harmonisch und pointiert gespielt. Ich war erstaunt von der Alterszusammensetzung des Publikums. Erwartet hatte ich viele Zuhörer, die altermäßig als meine Eltern durchgehen könnten. Aber neben dieser Gruppe, Zeitgenossen der Musiker, die natürlich vertreten war, waren eigentlich auch alle Altersgruppen vor Ort. Interessant für mich, dass sich auch nochso Jugendliche und in den 20er Jahren Steckende mit der Musik identifizieren können. Diese Musik kann dem Zuhörer fast schon spirituelle Momente vermitteln. So sieht man mitunter vollbärtige ältere Herren, vom Typus Erdkunde-Lehrer kurz vor der Pensionierung, die man ansonsten als eher emotionslosere Zuhörer einordnen würde, die die ganze Zeit mit ausladenden Armbewegungen tanzen, Pirouetten drehen und zu jedem Zeitpunkt absolut textsicher sind. Die Musik live in einer solchen Atmosphäre zu hören, hat nochmal eine ganz andere Kraft als die reine Medienwiedergabe.
Mein etwas älterer Platznachbar zu Rechten war teilweise emotional von der Musik so berührt, dass ihm nach manchen Solo-Parts oder rhytmischen Übergängen nichts anderes übrig blieb, als tremolierendes Indianerschrei von sich zu geben. Drei oder viermal hat er mich auch mit seinem linken Arm umarmt und vermutlich etwas Begeistertes über die Musik ins Ohr gerufen. Nehme ich zumindest an, denn ehrlich gesagt, habe ich – auch wenn ich es wirklich versucht habe – kein Wort von ihm verstanden. Als Reaktion habe ich mit dem ausgestreckten Daumen gewippt, was er dann noch mit einem Klapps auf die Schulter quittiert hat.
Insgesamt hat sich der Aufwand für dieses Konzert auf jeden Fall gelohnt. Knapp 4 Stunden super Musik in toller Atmosphäre.  Ein Ereignis mit bleibender Erinnerung.
Was ich während des Konzerts (am 13.11.2015) nicht verstanden habe, war ein Symbol das immer mal wieder auf die große Leinwand hinter der Bühne projiziert wurde. Es handelte sich ein Peace-Zeichen, wobei das Kreisinnere aus einem Eifelturm bestand, wie mit grober Wachsmalkreide schnell skizziert, mit der Überschrift  Pray for Paris. Als ich nach dem Konzert gegen 01:00 Nachts in mein Motelzimmer kam und nochmal durch die Fernsehsender gescrollt bin, habe ich dann von CNN erfahren, wem Dead and Company das Konzert in Columbus gewidmet haben. Mir wurde auch dann klar, dass Touch of grey als Zugabe ausgewählt wurde, da die letzten Zeilen des Stück folgendermaßen lauten "We will survive, we will survive".
Gleichzeitig ist mir bewusst geworden, dass im Radio in der Regel keine Nahrichten gesendet werden. Auf der Hinfahrt habe ich durchgehend 5 ½ Stunden Radio gehört. In Michigan wechsle ich immer mal wieder zwischen drei programmierten Sendern und in Ohio habe ich mehrere Neue gesucht, gefunden und gehört. Aber es kamen keine Nachrichten oder Infos über die Ereignisse von Paris am 13.11.2015 im Radio. 
Zum Abschluss noch die Set-List für die Dead-Heads unter den Lesern, wobei insbesondere das zweite Set mich äußerst begeistert hat, und ein kleiner atmosphärischer Eindruck von I know You Rider.
 

Set I
Mississippi Half-Step Uptown Toodeloo
Brown Eyed Women
Tennessee Jed
Little Red Rooster
Bird Song
Standing On The Moon
Cumberland Blues

Set II
Playin’ In The Band
China Cat
I Know You Rider
Eyes Of The World
Space
Drums
The Wheel
Black Peter
Playin’ In The Band (reprise)
Good Lovin’
E:Touch of Grey 

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