Mittwoch, 21. Oktober 2015

Willie und Merle im Fox Theater



Neben den beruflichen Erfahrungen in einem anderen kulturellen und betrieblichen Umfeld verbinde ich mit dem Aufenthalt in den USA für mich die Mission, möglichst auch in meiner Freizeit in die fremde Kultur einzutauchen. Musik – made in America – ist eines der Themengebiete, die sich mir gerade dazu anbieten.
Gestern hatte ich das große Glück, an einem ur-amerikanischen musikalischen Ereignis teilzuhaben. Wenige Tage zuvor ergatterte ich eine Konzertkarte für das Duett Willie Nelson und Merle Haggard. Country Musik ist in den USA etwas anderes, als was Viele in Deutschland mit Country und Western Musik assoziieren. Während in Deutschland die so bezeichnete Musikrichtung zum großen Teil aus Mainstream besteht, der von der Musikindustrie diktiert wird und in Verkleidung von Cowboys vorgeführt wird, mit romantisierenden Texten, die sich vor allem auf Fernfahrererlebnisse kapriziert, hat die Differenzierung des Genres in den USA eine ganz andere Qualität. Abgesehen davon ist der Bezug der Themen hier denn auch authentisch. In Deutschland ist sicherlich auch in der Vergangenheit der Gebrauch des Lassos als Arbeitsgerät eher fraglich.
Von Bluegrass über Honky Tonk erstreckt sich das Genre bis zum Outlaw-Country. Dem Outlaw-Country, der sich Anfang der 1970er Jahre formierte als Gegenbewegung zum Mainstream-Country aus Nashville, der die Macht der Musikindustrie gegenüber den Künstlern nicht dulden wollte, gehörten als Protagonisten neben Willi Nelson auch Kris Kristoffersen, Wayolin Jennings und Johnny Cash an.
Um 07:30 p.m. sollte das Konzert beginnen, ich verließ meine Wohnung kurz nach sieben, da ich nur drei Minuten Fußweg zum Fox Theatre habe. Beim Abschließen der Wohnungstür bereute ich es doch, mein Jeans-Hemd nicht mit in die USA genommen zu haben. Die Außentemperatur ist kurz nach Sieben immer noch knapp 21 Grad Celsius – verrückt, wie das Klima hier wechselt. Ob die Fleece-Jacke das richtige Kleidungsstück war...?!
Vor dem Eingang des Fox Theatres hat sich eine Menschenschlange von 40 bis 50 Meter angestaut. Grund dafür ist, dass jeder beim Vorzeigen der Eintrittskarte, die gescannt wird, sein Schlüssel, Mobiltelefon etc. einem Uniformierten aushändigen darf und durch einen Metalldetektor gehen muss, wie man es von Flughäfen kennt. Derjenige, bei dem die Lampe auf dem Türrahmen-ähnlichen Metalldetektor aufblinkt, wird noch einmal von einem freundlichen Herrn mit Hand-Metalldetektor untersucht – es grüßt die Flughafen-Routine. Jetzt bin doch froh, dass ich mich dagegen entschieden habe, meinen Fotoapparat, der die Elektrotechnik mit einen Metallkorpus umschließt, im Apartment gelassen zu haben – das hätte hier sicherlich für Diskussion gesorgt.
Auf das Fox Theatre wurde ich schon von meinem Vermieter aufmerksam gemacht: it is awesome. Und in der Tat, schon in der Eingangshalle ist man sich nicht mehr sicher, ob man in einer barocken Kirche, einem orientalischen Palast, oder in irgendeinem psycholdelischen Setting gelandet ist, da die goldenen Ornamente noch mit bunten Lichtern hinterleuchtet sind. Man wird alle paar Meter im dichten Gedränge von uniformierten älteren Damen mit Fliege um den Hals nach seiner Eintrittskarte gebeten und es wird einem der Weg gewiesen. Auf einmal stehe ich vor einer Aufzugstür, die sich von Innen auffalten lässt – von Hand. Die Aufzugführerin bittet mich und knapp 15 weitere Gäste hinein, lässt sich von jedem die Karte zeigen, obwohl es nur zwei weitere Stockwerte gibt, schließt manuell die Fahrstuhltür. Das Gefährt wird in Bewegung gesetzt, in dem die Aufzugführerin mit ihrer Hand einen Hebel etwa 20 Zentimeter langen Hebel umschließt, der in einem halbrunden Gehäuse verschwindet. Wird der Hebel von der 12-Uhr-Position nach vorne bewegt – stufenlos – fährt der Aufzug nach oben, wird er aus der 12-Uhr-Position nach hinten bewegt, geht es abwärts. Die sicherlich geübte Aufzugführerin muss auf den Etagen auch immer wieder leicht nachsteuern, um parallel zum Geschossboden stehenzubleiben. Im zweiten Stock angekommen, wird jeder Gast einzeln zum Sitzplatz geleitet. Auch nach Konzertbeginn sieht man die ganze Zeit, wie kleine Taschenlampenkegel verspätete Gäste zu ihren nummerierten Sitzplätzen führen.
Kurz nach 07:30 p.m. kommt eine 9-köpfige Band auf die Bühne und beginnt mit dem Willkommens-Applaus zu spielen. Moment, hier stimmt etwas nicht, hier ist weder Willie Nelson, noch Merle Haggard dabei. Nach einem zweiten Stück, das mir nicht bekannt ist, tritt der Sänger mit seiner Akustik-Gitarre in den Hintergrund und Merle Haggard betritt die Bühne: sofort und kollektiv begrüßt das Publikum ihn mit Standing Ovations. Der Sänger und Lead-Gitarrist der ersten beiden Lieder stellt sich neben die Background-Sängerin und darf ab jetzt nur noch im Takt klatschen.
Merle Haggard ist eigentlich ein Vertreter des Honky Tonk, was er auch an zwei Liedern an der Fiddel unter beweist stellt. Ihm wird nachgesagt, dass er zum Country berufen wurde durch ein legendäres Konzert  von Johnny Cash in St.Quentin, an dem er als Zuhörer teilnahm. Merle verbrachte dort drei Jahre im Gefängnis wegen Raubüberfall.
Wo bleibt Willie? Track für Track warte ich, dass der Meister auftaucht. Es scheint auch, dass die Band auf Willie wartet. Merle und der Mundharmonikaspieler wechseln nach einigen Liedern immer ein paar Sätze mit einer weiteren Betreuungsperson auf der Bühne. Es werden dann kurz mit der Band Absprachen getroffen, ich nehme an für Songs, die vermutlich ohne Willie gespielt werden können. Nach knapp 45 Minuten Konzertdauer mitten im Lied betritt auf einmal der Meister mit wacklingem Gang die Bühne, was sicherlich nicht nur daran liegt, dass er mittlerweile 82 Jahre alt ist. Vermutlich hat irgendeine Beschäftigung dazu geführt, dass Willie das Zeitgefühl etwas verlassen hat. Nach tobendem Applaus am Ende des Songs kündigt Willie den nächsten Song an: The next one is about Marihuana, all about Marihuana. Das Publikum flippt regelrecht aus, es kommt, aus dem Repertorie von Merle Haggard, der Song: Oki from Muskogee. Dann ist Pause.
Während der Pause im beleuchteten Saal wird mir gewahr, dass ich den Altersdurchschnitt im Publikum nach unten ziehe. Die meisten Besucher würde ich zwischen 55 und 85 Jahre tippen – oder sehen zumindest so aus. Einige sind auch mit Gehhilfen unterwegs. Statt dem von mir vermissten Jeans-Hemd sind karierte Flanellhemden, die ausschließlich aufgeknöpft getragen werden, sehr en vogue. Auch bei den älteren Herren befindet sich unter dem geöffneten Flanellhemd in der Rgel ein T-Shirt, dass dem Träger eine Botschaft zuschreibt, manchmal auch Charaktereigenschaft, Erfahrung oder kulturellen Bezug. Man erkennt einige gebatikte Grateful-Dead T-Shirts oder Johnny Cash mit gestrecktem Mittelfinger auf der Bühne von St.Quentin. Ein älterer Herr mit längerem weißen Bart und weißem Zopf trägt ein sehr verwaschenes T-Shirt mit der Aufschrift Vietnam Veterans. Der Rest ist leider nicht mehr lesbar. Ein kleiner übergewichtiger Mann, mit aufgedunsenem Gesicht und Dreitagebart trägt ein weißes T-Shirt mit blauen Lettern: SHOTGUN WILLIE. Das lässt kurzzeitig Assoziationen zu, wie er denn zu diesem Sptiznamen gekommen sei. Dann fällt mir doch ein, dass ein Album von Willie Nelson Anfang der 1970er Jahre diesen Titel trägt. In der Pause sind an jeder der zahlreichen Bars endlos lange Menschenschlangen. Ich verzichte, gehe dann im zweiten Set kurz raus mir auch ein Bier kaufen. 9,75$ der Becher ist ein stolzer Preis: aber egal. Nach der Bestellung greift der Barkeeper in den Kühlschrank nimmt eine Dose Bier heraus, öffnet diese und gießt sie in einen Plastikbecher, den er mir überreicht. Es ist allerdings ein 32 OZ Becher, was in etwa 950ml entspricht – fast wie auf dem Oktoberfest. Die Herrschaften neben mir haben im Laufe des ersten Sets jeweils drei Becher Bier verzehrt.
Nach der Pause ist für eine halbe Stunde Willie alleine mit vier Musikern auf der Bühne und spielt seine Songs, bevor Merle mit E-Guitarre nach einer knappen halben Stunde wieder dazu stößt. Alle Solos werden auch von Willie mit der Akustikguitarre gespielt. Always on my mind  und Georgia on my mind werden gecovert. Bei den großen Hits wie: On the road again, Mama, don`t let grow up your babies to be cowboys oder smoke me when I die, werden alle Strophen vom Publikum mitgesungen.
Dann legt irgendwann mitten im Song gegen 22:30 pm Willie Nelson die Gitarre ab, geht zum Bühnenrand und unterschreibt entgegengehaltene Gitarren, Pullover und Konzertplakate. Währenddessen spielt die Band weiter. Dann verschwindet Willie und anschließend die Band, das Licht geht an, keine Zugabekultur. Ende.
Die Akustik im oberen Galerie-Rang war leider nicht so gut, es reicht aber, um laienhaft empirische Sprachforschung anzustellen. Die Substantive, Mama, Home, Whiskey, Woman sind am häufigsten in den Liedern vorgekommen – in der genannten Reihenfolge. Hier werden ganz klar Werte adressiert, die in den USA eine große Rolle spielen. Im Outlaw Country werden diese Werte allerdings auch manchmal von gepflegten Schimpfwörtern und politischer Unkorrektheit begleitet – was mir diese Musikrichtung so sympathisch macht. 

Anbei ein Telefon-Foto vom Veranstaltungssaal

und noch eins von oben auf den Eingangsbereich mit den Metalldetektoren


Für einen weiteren visuellen Eindruck der Location empfehle ich den zweiminutigen Trailer:
http://www.olympiaentertainment.com/fox-theatre







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